Nur eine bunte Party?Christopher Street Day Stuttgart
Diese Menschen sagen: Nein!
Ein Mann, der wegen seiner Liebe zum gleichen Geschlecht hinter Gittern saß. Eine Rumänin, die nur bei den Schwulen Halt fand. Zwei Frauen, die 24 Jahre auf ihre Heirat warten mussten. Ein Social Media Duo, das die Gesellschaft zum Nachdenken anregen will. Sie alle möchten eines klarstellen: Auch heute ist der Christopher Street Day noch mehr als eine bunte Party.
Was bedeutet Vielfalt für dich?
Was ist der Christopher Street Day (CSD)?
Ein Fest-, Gedenk- und
Demonstrationstag der Regenbogen-Community. Dazu gehören lesbische,
schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere
Menschen, die für ihre Rechte und gegen Diskriminierung demonstrieren. Im
Mittelpunkt stehen Paraden, bei denen die Beteiligten ihre politischen und
gesellschaftlichen Forderungen öffentlich darstellen. So möchte die Community ein Zeichen
für Vielfalt, Respekt, Akzeptanz und Gleichberechtigung in der Gesellschaft
setzen.
Was vor etwa 40 Jahren mit einer kleinen
Minderheit auf den Straßen Stuttgarts begann, ist heute bunt und gut besucht.
Die Stuttgarter Politparade 2018
Das diesjährige Motto lautete: "Expedition WIR".
Bei der Politparade liefen über 6.500 aktive Demonstrant*innen mit.
Insgesamt gab es 92 Formationen: Eine Bimmelbahn, drei Motorradgruppen, 17 PKWs, 22 LKWs und 46 Fußgruppen - darunter sieben Unternehmen und zehn
Parteien.
Rund 175.000 Besucher versammelten sich an den Straßenrändern, um das Geschehen mitzuverfolgen.
Ein Aufstand wird Tradition
In der New Yorker Christopher Street gab es 1969 den ersten
bekanntgewordenen Aufstand der LGBTQ-Community, als Polizisten in der Bar Stonewall Inn eine Razzia durchführten. Daraus ist eine internationale Tradition geworden, die aus deutschen Großstädten nicht mehr wegzudenken ist. Die ersten CSD-Veranstaltungen fanden hierzulande im Jahre 1979 statt.
§ 175"Unzucht zwischen Männern"
Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches bestand
vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994. Er trat im Zuge der Gründung des
Deutschen Reiches in Kraft und hat jegliche Art von
Beziehungen zwischen Männern unter Strafe gestellt.
Der Paragraph hat unter anderem den Geschlechtsakt zweier Männer mit Sex mit Tieren verglichen:
“Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen
Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit
Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte erkannt werden.”
Etwa 100.000 Männer wurden
während der NS-Zeit unter dem Paragraphen verurteilt, Tausende in
Konzentrationslagern untergebracht. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Paragraph der NS-Fassung erstmals
unverändert.
In den 1960er Jahren dann der Wandel:
Die Schwulen- und Lesbenbewegung kämpfte für Toleranz.
1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform des Paragraphen. Seitdem wurde gleichgeschlechtliche Liebe nicht mehr geahndet. Sexuelle Handlungen zwischen männlichen Jugendlichen unter 18
Jahren blieben jedoch strafbar. Erst am 10. März 1994 ließ der Bundestag den Paragraphen aus dem
Strafgesetzbuch streichen.
Bis heute wurden die
Verurteilten der BRD nicht entschädigt.
So auch Helmut Kress, der wegen "Unzucht zwischen Männern" im Alter von 15 Jahren zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt wurde.
Helmut KressEin Zeitzeuge des Paragraphen
Helmut Kress wusste früh, dass er homosexuell ist. "Männer haben mir einfach immer besser gefallen als Mädchen". Der 72-jährige Tübinger hat eine Zeit miterlebt, in der Liebe zwischen Männern noch verboten war. In seiner Vergangenheit musste er viele Hürden überwinden, die ihn bis heute prägen.
Es war damals schwierig, schwul zu sein
Es war damals schwierig, schwul zu sein
Mein Urteil
Mein Urteil
„Ich war 15, als ich meine Lehre im Rathaus machte. Ich hab‘ für den Freund meiner Schwester geschwärmt und für ihn einen Liebesbrief geschrieben. Den hatte ich in meiner Schreibtischschublade versteckt. Mein Lehrmeister muss sie durchsucht, ihn entdeckt und gelesen haben. Er hat diesen zum Oberbürgermeister gebracht, welcher mich beim Amtsgericht auf homosexuelle Verdächtigung angezeigt hat. Morgens um Zehn – ich war gerade in der Vesperpause – da führten sie mich in Handschellen ab. Dann wurde ich von morgens bis abends bei der Kriminalpolizei verhört. Dort habe ich alles erzählt, was die wissen wollten. Wo sich die Leute treffen, was man dort macht, wer sich dort trifft. Du bist ja schließlich so erzogen, dass du die Wahrheit sagst, wenn man dich etwas fragt. Die Aussage, die ich bei der Kripo machen musste, war vor Gericht später ausschlaggebend, der Brief unwichtig. Ich wurde zu 14 Tagen Einzelhaft verurteilt. Begründung: Unzucht zwischen Männern“
Eine Schande für die Familie
Auch sie erlebte die Diskriminierung hautnahLaura Halding-Hoppenheit
"Die Schwulen waren die Einzigen, die mich akzeptiert haben"
Jeder Stuttgarter, der sich zur LGBTQ-Szene zählt, kennt
ihren Namen. Laura Halding-Hoppenheit bezeichnet sich selbst als die „Mutter
der Schwulen“. Als die Akademikerin aus Rumänien nach Hamburg kam, wurde sie
als Ausländerin ausgegrenzt und diskriminiert. „Die Schwulen waren die Einzigen, die mich akzeptiert haben.“ Mit ihrem damaligen Ehemann zog sie
später nach Stuttgart – auch dort fand sie erneut Halt in der Schwulenszene. Anfangs
spülte sie Gläser, heute ist sie die Chefin der Diskothek „Kings Club“ in Stuttgart.
Dort versteckten sich bis 1994 viele Schwule, die aufgrund des Paragraphen 175
von der Polizei verfolgt wurden. Laura Halding-Hoppenheit kämpft heute noch für
die Rechte Homosexueller und gegen HIV. Für ihren Einsatz erhielt sie
zahlreiche Auszeichnungen. Auch 2018 war sie wieder Teil der Politparade und erhielt auf der anschließenden Kundgebung den Preis für Solidarität und Akzeptanz.
Laura Halding-Hoppenheit
"Ich laufe auf dem CSD mit, weil ich sichtbar sein möchte. Ich möchte zeigen: Ich bin da! Ich kämpfe immernoch für unsere Rechte."
Die Ehe für AlleNach Abschaffung des § 175 konnte die Community weitere Erfolge erzielen
Am 1.
August 2001 wurde die eingetragene Lebenspartnerschaft für Homosexuelle deutschlandweit
eingeführt.
Seit dem 1. Oktober 2017 dürfen Menschen in Deutschland unabhängig von
ihrer sexuellen Orientierung eine Ehe führen.
Tschüss eingetragene Lebenspartnerschaft
- Hallo Ehe für Alle.
Elka und KatjaZwei Frauen, die endlich heiraten durften
Ihre Liebesgeschichte begann mit einer Partnerannounce in der Zeitung. Ein Jahr darauf folgte die Verlobung, später die Verpartnerung. Auf die Ehe mussten sie 24 Jahre lang warten.
Das langersehnte "Ja"
Doch die Öffnung der Ehe soll noch nicht das Ende seinViele Demonstranten kämpfen weiter
Sissy That Talk
Sissy That... What?
Aus einer klassischen Schnapsidee entwickelten Sven und Claudius im Mai 2016 das Projekt „Sissy That Talk“. Der gleichnamige Social-Media-Kanal besteht aus zahlreichen Videos und Interviews, die aktuelle Themen der LGBTQ-Community behandeln. Die Message: Lebt so queer, wie ihr seid und kämpft für diese Freiheit. Das Duo ist der Meinung, dass man als Sissy, also Homosexueller, erhobenen Hauptes durchs Leben gehen soll. Der Name „Sissy That Talk“ leitet sich übrigens vom kultigen Song „Sissy That Walk“ ab. Sängerin ist die in Amerika prominente Drag Queen Ru Paul, welche in einer TV Show namens „Ru Pauls Drag Race“ jährlich Americas next Dragqueen kührt. Sissy That Talk steckt außerdem hinter der erfolgreichen Dokumentationsreihe "Queer Life in the City“. Dabei erzählen Zeitzeugen der Szene ihre bewegenden Geschichten. Das Duo nimmt jährlich am Christopher Street Day teil - 2018 ist ihr Motto „Release your inner monster“.
Wofür kämpft ihr noch?Claudius
„Die Ehe für Alle war ein riesiger Schritt für uns, aber es fehlen immer noch viele weitere. Politisch sollte endlich mal ein Programm gegen Homophobie und Hassverbrechen auf den Weg gebracht werden. Dagegen sollte mehr aktiv unternommen werden. Es darf nicht nur darauf gehofft werden, dass die Gesellschaft sich von alleine weiterentwickelt. Da braucht es Aufklärung.“
"Ja, es ist eine große Party, aber..."
Für die Liebe: Der Kampf muss weitergehen
Eine Multimediareportage von...
Ljudmila Bobir
Kaja Hertneck
Lena Knaus
Nadine Rippler
Melanie Spremberg
Nadine Wittleben
Ricarda Zahn
Mit besonderem Dank an:
Laura Halding-Hoppenheit
Helmut Kress
Elka und Katja Edelkott
Sissy That Talk