Von SinnenEine Projektion zweier Perspektiven.
Rund elf Millionen Sinneseindrücke verarbeitet das Gehirn pro Sekunde. Sehen. Hören. Riechen. Schmecken. Tasten.
Fünf Sinne. Milliarden unterschiedlicher Wirklichkeiten.
Ein Künstler und eine Tänzerin zeigen die Welt aus einer anderen Perspektive.
eins | Die Leidenschaft SinnErfüllt
Kunst, soweit das Auge reicht
Aus der staubigen Werkstatt führt eine schmale Treppe nach oben in das Atelier
von Stephan Müller. Bunte Gemälde, Leuchtobjekte und Skulpturen aus Speckstein und Muschelkalk stehen nebenan in der kleinen Dachgalerie.
Sein einstiges Hobby hat Stephan vor 26 Jahren zum Beruf gemacht. Seitdem verkauft er nicht nur Bilder und Skulpturen, sondern gibt auch Kunstkurse für Erwachsene und Kinder. Viele Teilnehmer sind erstaunt, dass der 49-Jährige ein außergewöhnliches Auge fürs Detail hat.
Volle Lautstärke
Die Kopfhörer dreht Kristina Weber so laut, dass man die Musik noch in einiger Entfernung deutlich hören kann. Kaum erklingt der erste Ton, ist sie ganz in ihrem Element.
Kristina kommt ursprünglich aus Kasachstan, wo sie ihre Leidenschaft fürs Tanzen bereits in der Grundschule entdeckte. Die 32-Jährige wuchs in einer musikalischen Familie auf. Rhythmus hat sie schon immer im Blut.
Wenn sie tanzt, spielt die Musik vor ihrem inneren Ohr ab.
zwei | Die AntwortSinnFrage
Die Kunst des Sehens
„Es freut mich, wenn ich sehe, was die Kursteilnehmer in so kurzer Zeit geschaffen haben“, sagt Stephan. Wirklich sehen kann der Künstler das aber nicht. Denn der 49-Jährige ist mit der Sehkrankheit Retinitis Pigmentosa zur Welt gekommen.
Gesichter kann Stephan nicht erkennen, nur schemenhafte Umrisse und Farben. Wenn er sich in seiner Werkstatt, dem Atelier oder der Galerie bewegt, merkt man ihm seine Sehschwäche überhaupt nicht an. Wo die Farbtuben, Pinsel und Leinwände stehen, weiß Stephan ganz genau.
Eine Welt der Stille
Als Kristina ein Jahr alt war, ertaubte sie. Grund dafür war eine Erkrankung mit hohem Fieber. Seitdem braucht sie ein Hörgerät, wenn sie Geräusche wahrnehmen will.
„Ich muss immer nachfragen, welche Stimmung das Lied transportiert und wenn es auf den Text ankommt, lese ich ihn vorher, um ihn zu verstehen”, sagt Kristina. Im Alltag kommuniziert sie mithilfe von Textnachrichten und Lippenlesen. Ein bisschen sprechen kann sie auch. Am wohlsten fühlt sie sich jedoch, wenn sie sich durch die Mimik und Gestik der Gebärdensprache unterhalten kann.
Bei Hörverlust verstärkt sich die Aktivität der Fasern, die hinter der Zentralfurche vom somatosensorischen Cortex zum auditiven Cortex laufen. Die Kommunikation zwischen Tast- und Hörzentrum verbessert sich.
Sinneswandel
Wie Hör- und Sehbehinderte mit ihrem Sinnesverlust umgehen, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Laut Niels Birbaumer, Neurobiologe an der Universität Tübingen, kommen Menschen, die im Kindesalter einen Sinn verlieren, insgesamt besser mit der Einschränkung zurecht.
Im Idealfall kann das Gehirn eine Hör- oder Sehbehinderung ausgleichen, meint Birbaumer. Andere Sinne springen dann für den fehlenden ein.
„Wie viel da kompensiert wird, darüber wird oft gestritten”, sagt der Neurobiologe. Sicher sei jedoch, dass sich der Stoffwechsel, das Volumen und die Leistungsfähigkeit der Gehirnareale,
die besonders häufig im Einsatz sind, verbessern.
drei | Das LebenSinnGetreu
Warum gerade Kunst?
Warum gerade Tanzen?
“Viele Menschen sind erstaunt und sagen: ‚Was? Du hörst nicht und tanzt trotzdem so gut?‘ aber ich spüre die Musik genauso wie Hörende“.
Kristina hat schon immer ein Gespür für schöne Melodien. Ein Lieblingslied hat sie aber nicht. Worauf sie gerne tanzt, hängt ganz von ihrer Tagesform ab. „Wenn ich aktiv bin, höre ich gerne schnelle Musik und wenn ich traurig bin, brauche ich einen langsameren Titel.”
"Das Bild der Welt ist eine Projektion der Welt durch das Selbst."- Carl Gustav Jung
Von Sinnen.Eine Multimediareportage von
Madeleine Fischer
Jacqueline Fritsch
Maximilian Sepp
Jana Stäbener
Mit Dank an
Stephan Müller
Kristina Weber
Niels Birbaumer, Rita Mohlau,
Patricia Zimmermann und
Mechthild Hagemeier-Beck